Pressefoto Harald Grill © Georg Willmerdinger

 

Hinter drei Sonnenaufgängen

Streifzüge durch Rumänien, Bulgarien bis Odessa

 

Sonnenaufgang in Wald in der Oberpfalz. Der Kofferraum ist voll. Ich wünsche mir und meinem Auto alles Gute, denn ich weiß nicht, ob es die rund 7.000 Kilometer, die ich ihm abverlangen werde, ohne Probleme schaffen wird. Immerhin hat es schon 200.000 Kilometer auf dem Buckel. Der Zahnriemen wäre längst fällig, auch die Servolenkung müsste repariert werden, viel zu teure Reparaturen für mein knappes Budget und für ein Auto, das keine 300 Euro mehr wert ist.

Egal, jetzt suche ich mit kindlicher Vorfreude das Weite, fahr einfach los, hinunter nach Regensburg in die Donauebene und weiter in den Balkan, will durch Rumänien und Bulgarien bis Odessa reisen und entlang der türkischen und griechischen Grenze wieder zurück. Dabei werde ich Material sammeln für mehrere Radio-Features und für ein Reisebuch...

 

Hinter drei Sonnenaufgängen - BR 2015 - Teil 1

Hinter drei Sonnenaufgängen - BR 2015 - Teil 2

Hinter drei Sonnenaufgängen - BR 2015 - Teil 3

 

Leseprobe 1

Menschenauflauf auf dem Dorfplatz von MăceÅŸu de Jos. Hinter einer Art Altartisch drei Popen in bestickten Brokat-Messgewändern und ein Mann, der eine Schärpe mit den rumänischen Nationalfarben trägt. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit ein Denkmal, an die fünf Meter hoch, verhüllt von einem weißen Tuch.
„Für wen ist denn das Denkmal?“, frage ich eine Frau, die wie viele andere ein Kopftuch und einen langen, kleingemusterten Rock trägt. Sie zuckt die Achseln, deutet auf eine andere Frau, naja, auf eine „Dame“, die ganz vorn an der Absperrung steht. In ihrem pinkfarbenen Hosenanzug wirkt sie moderne, weltläufiger, vielleicht eine Lehrerin oder gar die Frau vom Bürgermeister. Aufmerksam verfolgt sie die Ereignisse am Denkmal. Ich frage sie auf Englisch, ich flüstere, um sie nicht zu stören: „Wer bekommt denn hier ein Denkmal?“
„Unsere Helden“, antwortet sie.
„Welche Helden?“
„Die vom Krieg.“
„Es ist doch lange kein Krieg mehr in Rumänien gewesen.“
„Die vom Zweiten Weltkrieg!“
„Aber da gibt es doch schon so viele Denkmäler.“
„Aber nicht für die Helden aus unserem Dorf.“
Aus den Lautsprechern, die an den Strommasten entlang der Straße befestigt sind, schmettert pathetische Musik. Vielleicht die Nationalhymne. Der mit der Schärpe in den rumänischen Nationalfarben muss der Bürgermeister sein. Er ergreift das Mikrophon. Die Musik hört auf. Er spricht zum Volk. Auf einmal hält er inne und geht, nein, er schreitet auf das mit einem weißen Tuch verhüllte Denkmal zu. Die drei Popen folgen ihm. Er bleibt stehen. Die Popen umkreisen das Denkmal und schwingen ihre Weihrauchkessel. Endlich zieht der Schärpenmann an der Schnur. Das Tuch fällt. Die Musik setzt wieder ein. Zum Vorschein kommt ein kleiner weißer Adler – viel zu winzig für die große Feier. Und viel zu winzig für die wuchtige Säule. Ein Dorfadler halt…
Später fallen mir die Kriegerdenkmäler in unseren bayerischen Dörfern ein. Auch die haben oft diesen Hauch hilfloser Pathetik. Und trotzdem jeder der Namen, die da eingemeißelt sind, besiegelt den Tod eines Menschen. Familien stehen dahinter und Söhne, die nicht mehr heimgekehrt sind. Der Name des älteren Bruders meiner Mutter, meines Onkels Siegfried, steht inmitten der Namen der einheimischen Bauern und Handwerkersöhne auf dem Kriegerdenkmal des niederbayerischen Marktes Hengersberg. Meine Mutter und meine Großmutter waren nach der Vertreibung aus Schlesien dort unweit der Donau gestrandet. Das Grab meines Onkels wurde nie gefunden. Er war in Russland gefallen und galt als vermisst. Kein Grab, kein Denkmal. Es gibt nur seinen Namen auf dieser Tafel an der Außenwand der Hengersberger Rohrberg-Kirche, wo ich sechs Jahre nach Kriegsende zur Welt gekommen bin.
Das Dorf Bechet hat eine lange Tradition für Donauüberquerungen. Es spielte wirtschaftlich und militärisch während der Unabhängigkeitskriege gegen die Türken eine wichtige Rolle. Mitten im Ort zweigt eine pfeilkerzengerade Straße im rechten Winkel zur Donau hin ab. Nachdem ich das Fährticket gekauft habe, muss ich durch die rumänische Grenzkontrolle. Ein einzelner, gelangweilter Grenzpolizist bittet mich den Kofferraum zu öffnen.
„Privat?“
„Yes, Holidays.“
Alles erledigt, er musste nur zeigen, dass er hier nicht ganz überflüssig ist.
Während ich auf die Fähre warte, komme ich mit einem Fernfahrer ins Gespräch, der ununterbrochen vor sich hin schimpft.
„Was ist los?“, frag ich ihn.
„Jetzt fahre ich schon 35 Jahre für meine Spedition. Seit wir die EU hier haben, wird es jedes Jahr schlimmer. Die nehmen einen aus, wo sie nur können!“
„Wie - ausnehmen?“, frag ich irritiert.
„Schmiergeld! In Ungarn geht es los, dann an jeder Grenze weiter.“
„Und wie schaut das konkret aus?“
„Da will einer das Fahrtenbuch sehen und blättert es durch. Finden kannst du immer was. Der hier hat dauernd den Kopf geschüttelt und wollte dann 10.000 Euro! Hab ich gesagt: ‘Leck mich am Arsch, zwanzig kannste haben!‘, hat er die zwanzig genommen, aus! Aber das geht nicht immer so glatt. Die können dich schlimm schikanieren. Ich fahr die Strecke einfach nicht mehr. Keine Lust mehr!“
„Wo müssen Sie denn hin?“
„Türkei. Hab mir Fracht besorgt, weil der Motor von meinem LKW überholt werden muss. Das kostet mich in Stuttgart über 30.000 Euro und bei den Türken höchstens 5.000. Dann nehm ich wieder Fracht mit nach Hause!“
„Na, da kannst du das Schmiergeld ja locker zahlen“, sage ich und zwinkere, damit der merkt, dass ich gefrotzelt habe.
„Kannst mich gern haben!“, sagt er, haut mich auf den Buckel, wendet sich seinem Lastwagen zu, weil die Fähre anlegt.
Neben fünfzehn Fernlastern finden ein paar PKWs drauf Platz. Während der Überfahrt unterhalte ich mich mit dem Fahrer eines Kleinbusses, der spricht fließend Deutsch, stammt aber aus der Türkei. Ein Türke, der eine Holländerin geheiratet hat und in Holland Autohändler ist, ein türkischer Holländer, ein holländischer Türke. Im Urlaub fahren sie in die Türkei, damit der Bub wenigstens einmal im Jahr seine Großeltern sieht und bei den Kindern dort ein bisschen Türkisch mitbekommt. Neben uns steht ein türkischer LKW-Fahrer. Ich will ihn was fragen. Der türkische Holländer wird mein Dolmetscher.
„Er kommt aus Dänemark. Morgen will er in Istanbul sein.
„Und dann ein paar Tage Pause, stimmt‘s?“
„Von wegen: abladen, aufladen und dann sofort wieder nach Dänemark!“
„Wahnsinn, wie viele freie Wochen bleiben denn im Jahr für die Familie?“
Er überlegt und sagt dann, als wolle er mich beruhigen: „Alles in allem kommen schon fast drei Wochen zusammen“.  

Angekommen am anderen Donauufer im bulgarischen Orjachowo, mache ich mich auf die Suche nach dem Iskar , einem Nebenfluss der Donau, der bis Sofia mein Begleiter sein soll. Er entspringt im Rila-Gebirge, fließt durch die Hochebene in der sich Hauptstadt breitmacht und frisst sich danach weiter nach Norden, durch das Balkan-, um rund fünfzig Kilometer donauabwärts von Orjachowo in die Donau zu münden. Während die walachische Ebene auf der nördlichen Donauseite einheitlich flach ist, steigt sie in Bulgarien, also südlich der Donau, stufenförmig in Plateaus bis zum Balkangebirge an. Dieser Gebirgszug kommt mir vor wie das Rückgrat Bulgariens. Es teilt das Land in eine Nord- und eine Südhälfte. Und die Flüsse fräsen Rippen aus der Karstlandschaft, an denen ich mich orientieren kann. Schon bald erkenne ich die Konturen der Berge am Horizont. Am Abend erreiche ich am Fuße des Balkangebirges die Stadt Vratsa. Die Hitze lässt etwas nach. Hunderte von Menschen sitzen in den Straßenrestaurants oder flanieren durch die ausgedehnte Fußgängerzone bis zum großzügigen Botev-Platz mit einem gigantischen Monument – hoch wie der Turm einer Dorfkirche. Es ist dem Dichter und Nationalhelden Freiheitskämpfer Christo Botev gewidmet. In einem Straßencafé sitzt ein junges Paar bei mir am Tisch. Wir unterhalten uns auf Englisch. „Ist denn der Botev wirklich so bedeutend?“, frage ich.
Sie: „Er hat 1876, zwei Jahre vor der Erlangung der Selbständigkeit Bulgariens, mit über 200 Gefährten den österreichischen Donau-Raddampfer Radetzky nach Kosloduij entführt. Sie wollten den Widerstand gegen die Osmanen anheizen.“
Er: „Ein paar Tage später wurde er hier bei Vratsa erschossen. Jedes Jahr an seinem Todestag, dem 2. Juni, heulen um zwölf Uhr mittags ihm zu Ehren eine Minute lang in ganz Bulgarien die Sirenen.“
„Heutzutage nennt man solche Leute Terroristen“, wende ich ein. Auweh, da bin ich ein Fettnäpfchen getreten. Die beiden sind entsetzt.
Sie: „Das ist doch was ganz anderes!“
Er: „Das geht es um die bulgarische Nation, um unser Volk! Wir waren immerhin 500 Jahre von den Osmanen besetzt.“
Ich erinnere sie an die Palästinenser und an das Kurdenproblem. Aber ich habe keine Chance gegen die beiden.
Er: „Das darf man doch nicht in einen Topf werfen. Schließlich haben wir eine historische Legitimation. Das ist unser Land. Es gehört unserem Volk seit eh und je. Wir lassen es nicht zu, dass Fremde über uns herrschen.
Sie: „Ja. wir lieben unser Land!“
Da nähert sich eine Hochzeitsgesellschaft dem Denkmal des Nationalhelden, als wolle das Brautpaar die Lebensgemeinschaft unter seiner Zeugenschaft besiegeln. Zum Wohle der Nation! Winzig klein wirken sie vor Botevs Größe. Auf einmal schäme ich mich, dass ich mich gestern in MăceÅŸu de Jos über die Einweihung des Kriegerdenkmals mit dem Zwergerl-Adler lustig gemacht habe. Offenbarte dieses Denkmal die Trauer der Überlebenden über die Gefallenen des Dorfes nicht ungewollt viel eindringlicher, einfach nur durch die Diskrepanz zwischen dem wuchtigen Granitsockel und dem kleinen weißen Adler. Armselig klein ist er, der „Vogel Schmerz“, und trotzdem nicht zu übersehen, ein kleiner weißer Schatten auf dem Röntgenschirm der Geschichte.

Spaziergang durch die Stadt. Wie ein Leseanfänger setze ich die kyrillischen Buchstaben im Kopf zu einem Wortbild zusammen: B – I – C – H – E – C. Und auf einmal muss ich lachen, ein Aha-Erlebnis: BUSINESS! Sowas nennt man Lesen lernen. Und es ist verwandt mit dem Lesen einer Landschaft, mit dem Kartenlesen, mit dem Versuch Übersicht zu gewinnen.

Sprechen lernen geht leichter. In einem Lebensmittelladen beginne ich mit dem Bulgarisch-Lernen: dober den heißt guten Tag, dobra vecer guten Abend, voda Wasser, molja heißt bitte und danke merci oder blagodarja. Ich glaub, mir reicht merci.

 

Leseprobe 2

Westlich von Hermannstadt, vor dem Hintergrund der Karpatenberge im Tal des Zibin-Flüsschens das Dorf Großau. Ich will mir die Kirchenburg anschauen, die dem Gründer der Firma Auqador so am Herzen liegt. Rechts und links der Straße eingeschossige Häuser mit bunten Fassaden, Giebel neben Giebel säumen sie die Straße. Die Kirchenburg macht sich gleich neben der Zibin-Brücke breit. Aber es ist gar nicht so einfach, den Eingang zu finden. Das war ja der Trick: Man wollte sich ja gegen die Osmanen verschanzen. Ich umkreise das von einer hohen Mauer und einem Wehrturm bewachte Kirchengelände. Es gibt mehrere Türen. Keine Ahnung wohin sie führen. Sie sind alle verschlossen. Ich solle nach Frau Maria fragen, hat Herr Rosinger gesagt. Weit und breit niemand zu sehen. Gott sei Dank habe ich ihre Telefonnummer…
„Frau Maria, bitte stehen Sie mir bei, ich finde nicht hinein in Ihre Burg.“
„Der Eingang ist gleich neben der Post!“, sagt sie.
Tja, wo ist die Post? Bald entdecke ich einen kleinen Laden mit einem Briefkasten neben der Tür, drüber das Schild poÈ™tă. Verschlossen. Neben dem Laden eine weitere Tür. Die ist nur angelehnt. Ich trete ein und treffe auf einen Mann, spreche ihn an. Er zuckt die Achseln. Da kommt auch schon die Frau Maria. „Das ist mein Mann, er spricht nur Rumänisch!“ sagt sie. „Wir müssen uns noch gedulden. ich erwarte noch ein paar Leute, die bei der Führung dabei sein wollen.“
Und schon ist sie wieder weg. Naja, ich mache einstweilen einen kleinen Rundgang. Die Kirchenburg besteht aus zwei Höfen. Im ersten, um einen Nussbaum gruppiert, mehrere Gebäude: ein Pfarrhaus, das als Gästehaus dient, ein Bienenhäuschen, ein langgestreckter offener Schuppen für allerlei Gartengerätschaften, eine Art Scheune, die als Veranstaltungsraum genutzt wird und das Wohnhaus von Frau Marias Familie. Durch ein großes Rundbogentor gelangt man dann zum eigentlichen Kirchhof. Zwetschgenbäume, Apfelbäume, die Wiese übersät von Fallobst. Wunderbar süße Zwetschgen! Vor dem Eingang zur Kirche ein Kriegerdenkmal. Dort wird an die Großauer Bürger erinnert, die in den beiden Weltkriegen gefallen sind, sowie an jene, die nach 1945 in die Sowjetunion deportiert wurden und nicht mehr heimgekommen sind.
An der Umrandungsmauer ein Beobachtungsturm, der zur Straße hinaus zeigt und ein Wehrturm, an den ein schmales Haus angebaut ist. „Heimatmuseum“ steht auf einem Schild und, dass das einmal die Burgwächterwohnung gewesen ist. Das Schild verweist zu einer Stiege, die zum ersten Stock führt. Droben liebevoll beschriftet: Ausstellungsgegenstände, Schaufensterpuppen mit alten Trachten, Einrichtungsgegenstände aus früherer Zeit, Häkelarbeiten… Da höre ich nach mir rufen. Drunten vor der Kirchentür steht Frau Maria mit einer Reisegruppe. Sie wechselt bei ihren Erklärungen zwischen Rumänisch und Deutsch.
„Zu Pestzeiten ist der Pfarrer nicht in die Kirche herüber gekommen, sondern hat nur von der Pestkanzel, einem kleinen Türmchen drüben im Pfarrhof gepredigt. Einer musste ja überleben, um später die Toten christlich zu beerdigen.“
Bevor wir die Kirche betreten, weist sie noch darauf hin, dass es im Gästehaus dreißig Übernachtungsplätze gibt. Und wer gern im Heu schläft – im Bienenhaus haben auch noch zwölf Leute Platz!

„Die Gemeinde wurde 1132 gegründet. Ein ungarischer König hat damals die Sachsen ins Land eingeladen und ihnen einen Freiheitsbrief versprochen: Grundstücke, Baumaterial und Steuerfreiheit. Es gibt neben dem Beobachtungsturm und dem Wehrturm noch den Speckturm als Nahrungsreservoir und einen Schulturm, wo die Kinder gelernt haben, wenn Türken oder Tataren im Ort waren. Der Glockenturm ist mit 75 Metern sogar um drei Meter höher als der von Hermannstadt. Auf dem Glockenturm sind noch vier kleine Türme. Die bedeuten, dass der Kirche die Rechtsprechung zustand, sie konnte sogar Todesurteile aussprechen.“

 

besuche an freien tagen
heimatmuseum in siebenbürgen

sie kommen im urlaub
um nachzusehen wer sie waren

schaufensterpuppen in alten trachten
häkelborten an den vorhängen
die ränder der heimat

fünf sind geladen
zehn sind gekommen
gieß wasser zur suppe
heiß alle willkommen

 

Die Führung endet im sogenannten Speckturm. Dort gibt es Gelegenheit für die Teilnehmer, sich mit Salami und Speck einzudecken. Der Erlös dient dem Erhalt der Kirchenburg. Als sich die Gruppe auflöst, bleibe ich noch ein bisschen. Nach so viel Vergangenheit interessiert mich jetzt die Gegenwart.
„Wie viele Siebenbürger Sachsen leben denn heute noch in Großau?“
„Bis 1990 lebten noch 3.000 Sachsen und Landler hier. Heute sind es noch 27, die meisten von ihnen sind über achtzig“, sagt die Frau Maria.
„Landler? Was sind Landler?“
Und schon sind wir wieder in der Vergangenheit.
„Mitte des 18. Jahrhunderts wollte Maria Theresia die Habsburger Monarchie ‚katholisch machen‘ und duldete im Mutterland keine Protestanten mehr. Diese Leute wurden damals allesamt aus Österreich in die Region um Hermannstadt deportiert. Sie haben ihren österreichischen Dialekt behalten und wurden hier die Landler genannt. Das war halt hier seinerzeit das einzige Gebiet des Habsburger Reiches in dem Protestanten toleriert wurden, denn die Siebenbürger Sachsen waren bereits seit Anfang des 16. Jahrhunderts evangelisch. Noch dazu war zuvor das Gebiet durch die Pest und die Türkenkriege stark entvölkert worden.“
„Und wie haben sich die Sachsen und die Landler vertragen?“
„Im Grunde ganz gut, wenn allerdings ein Landler eine Sächsin geheiratet hat, dann musste die Sächsin die Tracht vom Landler annehmen und in der Kirche in die letzte Bank der Landler. Und wenn sich eine Landlerin und ein Sachse zusammengetan haben, bekam die Landlerin die sächsische Tracht und musste in die letzte Bank der Frauen. In der Kirche saßen die Frauen immer in der Mitte, links die landlerischen, rechts die sächsischen und die Männer ringsherum in den Bänken mit den Lehnen. Die Sachsen kamen durch den Haupteingang in die Kirche und die Landler durften nur durch den Hintereingang hinein. Irgendwie gab es auch einen gewissen Neid auf die Landler. ‚Die kommen mit nix und kriegen dann das und das und das…‘ Übrigens: Die Landler sind nach 1990 bei der Abwanderung nicht nach Österreich sondern nach Deutschland gegangen, denn Österreich hat sie nicht genommen, dort gab es kein Gesetz wie in Deutschland.“
Frau Maria erinnert sich noch gut an die Ceaușescu-Zeit.
„Früher, wenn Besucher aus Deutschland gekommen sind, haben sie Koffer voller Geschenke gebracht: Schokolade, Kaffee… Nicht wenige Leute bei uns hatten den Eindruck, in Deutschland ist alles umsonst. 1990 waren die Grenzen offen. Schnell, schnell, schnell haben sie die Häuser verkauft, das war schlimm. Ich denke, wenn sie nur über die Grenze gegangen wären um zu schauen, wie das in Deutschland so ist – vielleicht für zwei, drei Monate – dann hätten sie danach frei entscheiden können, ob sie wirklich gehen wollen, da wären bestimmt nicht so viele in Deutschland geblieben. Freilich, jetzt sagen sie: ‚Wir haben Kinder und Enkelkinder, wir können nicht mehr zurück.‘“
„Ist ja auch verständlich“, gebe ich zu bedenken, „wenn man sich vorstellt, was in den osteuropäischen Ländern alles mitgemacht haben.“
Frau Maria gibt mir recht: „Meine Mutter ist nach dem Zweiten Weltkrieg für fünf Jahre nach Russland deportiert worden. Als sie zurückkam, hat sie einen Rumänen geheiratet. Das war in Großau die erste Ehe zwischen einer Sächsin und einem Rumänen. Dann wollten uns die Sachsen nicht mehr und die Rumänen auch nicht. Das war ein ziemliches Durcheinander in der kommunistischen Zeit, auch mit den Kirchen: Ich bin zum Beispiel getauft bei den Orthodoxen und konfirmiert bei den Sachsen. Wir haben mitten im Dorf gewohnt. Da promenierten die Mädchen am Sonntag auf der Straße und ich stand mit meiner Schwester nur hinter dem Tor. Wir durften nicht mitgehen. Wir waren Mischlinge. Es ist manchmal heute noch so. Da spür ich auf einmal so einen Pfeil…“
„Ich habe gelesen, von den 1970er bis zu den 90er Jahren hat Deutschland Rumäniendeutsche freigekauft. War das nicht auch für Sie interessant?“
„8.000 Mark pro Person hat man dem rumänischen Staat gezahlt. Aber mein Vater war Rumäne, mein Mann war Rumäne. Ich habe nie drüber nachgedacht, ob das für mich eine Möglichkeit gewesen wäre.“

 

Leseprobe 3

Mich zieht es weiter nach Süden in die Berge zu den Bären und Wölfen, hinein in die Welt der Karpaten. In Åžinca Nouă, deutsch: Neu-Schenk, wartet der BayerwaldIer Christoph Promberger auf mich. Etwa in der Mitte des langgezogenen Orts bleibe ich vor dem Schulhaus stehen. Der Unterricht ist schon lange aus, die Sonne wird gleich untergehen. Ein alter Mann sitzt auf der Bank vor seinem Haus und tut so, als schliefe er. Aber ich weiß genau, dass er mich beobachtet. Ich stell mich neben ihn: „Bună! Guten Tag!“ Dann probier ich ein italienisches Wort aus, manchmal funktioniert das in Rumänien: „Casa! Casa di Promberger?“ Nichts. Da springen mir aus lauter Verzweiflung noch bayerische Brocken auf die Zunge. „Casa di Promberger taat i suacha!“

Während ich spreche, deute ich in verschiedene Richtungen, wie ich es immer mache, wenn ich zeigen will, dass ich etwas suche und den Weg wissen will. Er schaut mich mit großen Augen an, zuckt mit den Achseln. Ich versuch es mit dem Vornahmen: „Christoph! Di Germania!“ Jetzt geht ihm ein Licht auf. „Ah, Christoph!“ Er steht auf, geht mit mir bis zur nächsten Abzweigung und deutet auf einen holprigen Weg und sagt: „Christoph! Christoph!“ Und ich sag: „Merci mulÅ£!“, was in meinem Kauderwelsch heißen soll mulÅ£umesc: „vielen Dank“.

Christoph Promberger erläutert mir das Konzept seiner Ferienpension: „Wir bieten klassische Reitertouren an. Bei uns kann man hinreiten, wo man will, es gibt selten Zäune. Wir haben viele Angebote für Familien, einen Streichelzoo, Hunde, Katzen, Enten, Gänse, Kaninchen, Schweine, Pferde, Ponys, alles was man sich an Haustieren vorstellen kann. Wer Lust hat, kann Bogenschießen, wandern oder abends zum Bärenbeobachten in den Wald gehen. Das können wir organisieren. Wir bieten auch eine gehobene Küche an, mit Bioprodukten hier aus dem Dorf, aus dem eigenen Garten, von unseren eigenen Tieren, die alle viel Platz haben und frei rumlaufen können. Kurz: Aus dem früheren Reitstall ist ein großer Ferienbetrieb geworden.“

Urlaub, gut und schön, aber muss man da gleich mit der ganzen Familie nach Rumänen übersiedeln? Und was ist mit den schulpflichtigen Kindern?

„Naja, unsere Kinder waren nur kurz in der Dorfschule, aber das war nix!“, sagt der Christoph Promberger. „Wir haben sie wieder herausgenommen und unterrichten sie zuhause. Da gibt’s ein Institut, das vom deutschen Staat akkreditiert ist. Die schicken uns die Schulmaterialien. So können unsere Töchter das daheim machen. Die können zwischendrin in der Pause in den Reitstall runtergehen, sich auf ein Pferd setzen und eine halbe Stunde draußen rumreiten. Das ist ein traumhaftes Leben für ein Kind und für uns ist es auch super, weil wir nicht an bestimmte Ferienzeiten gebunden sind.“

In der Pension gibt es gemeinsame Essenszeiten. Man kommt miteinander schon beim Frühstück ins Gespräch. Danach geht jeder seiner Wege. Die einen reiten aus, die anderen wandern. Ich mach mich allein auf den Weg.

Beim Spazierengehen lerne ich schnell: Dieses Naturparadies kann ich als Kurzbesucher nur am Rande beanspruchen. Unwegsames Gelände. Vor den kläffenden Hütehunden hat mich der Christoph besonders gewarnt. Mit denen sei nicht zu spaßen, sie seien darauf abgerichtet, die Herden zu verteidigen. „Die sind gefährlicher als die Bären!“ hat er gesagt, „denen ist es egal, ob die Eindringlinge wilde Tiere oder Menschen sind.“

Ab und zu verdächtiges Rascheln im Unterholz. Ich stoße auf Kühe, die in aller Ruhe durch den Laubwald streunen und nach Futter suchen. Allmählich lerne ich verschiedene Formen des Raschelns zu unterscheiden: das gemächliche, das sich in gleichbleibendem Tempo fortsetzt oder ein einmaliges kurzes Rascheln, ein plötzliches Knacken von Ästen und danach Stille… Selbst den Kot von Tieren lerne auseinanderzuhalten. Unter einem wilden Apfelbaum liegt verstreut das Fallobst. Daneben, das müsste Bärenlosung sein. Bis heute kannte ich Bärendreck nur aus meiner Kindheit. Wenn wir am Kiosk Lakritzrollen kauften, verlangten wir „um a Zehnerl an Bärendreck!“ Fällt einem sowas ein, wenn man Angst hat? Zur Ablenkung?

„Ruhig bleiben, wenn ein Bär auftaucht“, hat der Christoph gesagt. Ich bleibe also ruhig. Ganz wohl ist mir dabei nicht. 

  ***
 

Abends sitzen wir im Garten und sprechen über die großen Probleme der Karpaten. Was Christoph am meisten Sorgen macht, ist der Raubbau in den Wäldern.

„Die Kahlschläge in den Karpaten haben massiv zugenommen, insbesondere auf der Südseite, wo tausende von Kubikmetern geschlagen wurden, einfach weil dafür zurzeit ein Markt vorhanden ist. Drei große Unternehmen aus Österreich tun sich dabei besonders hervor. Eines davon ist die Firma Schweighofer, die zurzeit ganz massiv in der Kritik steht. Man konnte nachweisen, dass sie illegal geschlagenes Holz aus den Nationalparken gekauft und sogar Prämien dafür gezahlt hat.“

Christoph Promberger beobachtet die Szene seit Jahren.

„Schweighofer hat inzwischen eine ganze Reihe von großen Sägewerken mit einer Kapazität von über vier Millionen Kubikmetern pro Jahr. Dann gibt’s noch zwei andere, zum Beispiel Egger und Kronospan, die immer größer werden. Diese drei Firmen teilen unter sich fast den kompletten rumänischen Wald auf. Vor zehn, fünfzehn Jahren waren hier nur kleine Sägewerke, die lokal operiert haben. Die hatten gar nicht die Möglichkeit, einen so großen Kahlschlag zu verarbeiten und sie hatten auch kein Interesse daran, weil sie ja in 20 Jahren auch noch leben wollten. Aber so ein großes Sägewerk holt sich das Holz aus 200 oder 500 Kilometern Entfernung, wenn es in der nächsten Umgebung keines mehr gibt. In der Folge sind in Rumänien große Holzfabriken entstanden, weil die Arbeitskräfte billig sind und vor allem, weil die Ressource da ist. Das ist momentan ein großes ökologisches Problem.“

Christoph Promberger spricht schneller. Ich spüre, die Machenschaften in Rumänien gehen ihm durch und durch. Er lebt hier seit Anfang 1993. Damals ist er im Rahmen eines Wolfsprojektes zum ersten Mal hier her gekommen. Er weiß wovon er spricht. „Dieses Holz ist fast ausschließlich für den Export bestimmt. Der Großteil geht nach Japan. Die Firma Kronospan hat sogar eine eigene Abteilung im Hafen von ConstanÅ£a, von wo aus das Holz fast ausschließlich nach Asien geht. Schweighofer macht in erster Linie Sägeholz, sie produzieren Bretter und Balken. Kronospan macht sehr viele Spanplatten und diese Verbundplatten, die dann am Bau verwendet werden.“

„Es geht also nur darum Holz zu ernten auf Teufel-komm-raus“, stelle ich lapidar fest. Dann denke ich an die Wildtiere.

„Das alles ist nicht nur ein Angriff auf charismatische Tiere, wie Wölfe, Bären, Luchse, Gämsen oder Hirsche, sondern es ist auch ein ganz massiver Eingriff für die kleinen Welten der Insekten, der Pilze. Das ganze Ökosystem leidet massiv darunter. Wenn ein Wald, der an die 150 Jahre alt ist, kahlgeschlagen wird, wenn die Sonne auf die Hänge brennt und die großen Traktoren Spuren in diesen Hang hineingeschnitten haben, entstehen beim nächsten Starkregen Erosionsrinnen, die zum Teil drei, vier Meter tief sind. Wir sprechen von der brutalen Zerstörung eines unglaublich schönen Ökosystems. Diese Firmen kaufen die Waldflächen nicht, das wäre ihnen viel zu teuer, sie kaufen nur die Holzmasse. Sie sagen zwar, dass sie Kontrollsysteme haben um sicherzustellen, dass das nicht illegal geschlagenes Holz ist, aber es gibt eine Reihe von Naturschutzorganisationen, die nachweisen konnten, dass sie sehr wohl illegal geschlagenes Holz kaufen. Das hat viel mit Korruption zu tun. Da werden die Leute von der Forstaufsichtsbehörde entsprechend bedacht, dass die nicht vorbeikommen und woanders hinschauen. Das ganze Holz geht dann innerhalb eines Sommers komplett in die großen Sägewerke. Hinterher sind die Wälder verschwunden und keiner weiß offiziell, was da passiert ist.“

„Hat nicht die rumänische Regierung nach der Revolution ein Gesetz erlassen, dass alle Wälder, die während der kommunistischen Zeit verstaatlicht worden sind, wieder zurückgegeben werden müssen? Das sind doch relativ kleine Grundstücke. Wie kommt es dann zu diesen großen Kahlschlägen?“

„Die Erben haben zu den paar Hektar Wald ihrer Vorfahren keinen Bezug mehr. Die wollen das Ganze lieber „cash“ haben. Die verkaufen das Holzrecht ‚tutti completti‘.“

„Gibt es denn niemanden, der dagegen etwas unternimmt?“

„2005 haben wir uns überlegt, was man da machen kann. Wir haben ja ganz in der Nähe den Königstein-Nationalpark. Sogar dort wurden die Flächen wieder an die Privatleute zurückgegeben und im Nationalpark ging es dann mit den Kahlschlägen los. Völlig illegal, aber die Nationalparkverwaltung konnte nichts dagegen tun, weil die Justiz jegliche gesetzliche Verfolgung abgeblockt hat. Wir haben diesen Nationalpark in der Zeit, als wir unser Forschungs- und Schutzprojekt für Großtiere hatten, sehr unterstützt Von da her hat es uns natürlich besonders wehgetan, zu sehen, wie das Gebiet vor die Hunde geht. Wir haben schließlich zufällig eine sehr begüterte Schweizer Familie gefunden, die im Naturschutz sehr aktiv ist. Sie war bereit uns zu helfen, die Flächen aufzukaufen, die an die Privatleute zurückgegeben wurden. Die Einheimischen wollten ja nur das Geld haben, denen war es egal, ob ihr Grund an die Holzfirma geht oder an eine Naturschutzorganisation. Wir haben eine Stiftung gegründet und über sie inzwischen insgesamt 16.000 Hektar aufgekauft. Das ist eine Fläche, fast so groß ist wie der Nationalpark Bayerischer Wald. Und wir wollen noch mehr kaufen, mit dem Hintergedanken, einen sehr großen Nationalpark zu schaffen, der überregionale Bedeutung hat, so etwas wie ein europäischer Yellowstone-Park.“

Heutzutage geht es nicht mehr um die Austreibung aus dem Paradies, sondern um die Zerstörung des Paradieses. Christoph Promberger steht in Kontakt mit Prinz Charles, der in Rumänien Anwesen gekauft und renoviert hat. Er bietet, ähnlich wie die Prombergers, Gästezimmer an, Öko-Ferien für Exkursionen zu Pferd oder mit Kutsche, für Wanderungen durch Wildblumengebiete oder zum Bärenbeobachten. Das Ziel ist dabei immer auch, das Gespür für ein Leben im Einklang mit der Natur zu vermitteln.

 „Es geht aber nicht nur um die Holzmafia,“ betont Christoph, „die gut gemeinte Förderung von Seiten der EU ist im Prinzip ein Desaster für die Natur. Da gibt es Gelder für Regionalentwicklung. Die Straße hier herauf soll jetzt mit EU-Geldern asphaltiert werden. Der Bürgermeister freut sich natürlich, denn in der Regel ist es so, dass bei solchen Projekten der Bürgermeister einen gewissen Anteil abkriegt. Das ist hier ein ungeschriebenes Gesetz. Die Bürgermeister verlangen das und die Baufirmen zahlen. Am Ende haben wir jede Menge Asphaltstraßen, die kein Mensch braucht. Hier fährt ja nur ab und zu ein paar Traktor vorbei. In der Früh und abends marschieren die Kühe entlang und die Wasserbüffel und die Pferdefuhrwerke. Da braucht es keine Teerstraßen. Noch dazu sind solche Straßen meistens schlecht gebaut, weil die Baufirma, die den Auftrag ausführt, auch nur abkassieren will. Die sollen eine gute Schotterstraße bauen, da hab ich überhaupt nichts dagegen. Ein brauchbares Konzept, das für den regionalen Raum notwendig wäre, haben die Leute hierzulande nicht, die Politiker sowieso nicht, da geht’s nur um Investitionen. Das ist alles total hirnrissig.“